Zeit ist Geld

Da tot mein Leben war,
sei Du mein Leben, Tod!
Was zwingt mich, der ich beides nicht erkenne,
Daß ich dich Tod und jenes Leben nenne?
In eine Stunde kannst du Leben pressen,
Mehr als das ganze Leben konnte halten ...
(Hugo von Hofmannsthal, "Der Tor und der Tod")

Im Jahre 1917 finden sich, worauf mich der Oldenburger Geomikrobiologe und Geophysiologe Wolfgang Krumbein aufmerksam machte, im Briefwechsel Thomas Manns (an Ernst Bertram) die folgenden Äußerungen:

"Es ist Adalbert Stifters ausführlicher Roman ‚Nachsommer', eines der unbeeiltesten, gleichmäßigsten und gleichmütigsten Bücher der Welt ... es hat die Maße sozusagen des ewigen Lebens, als ob die Welt ohne Gedränge und Hast und Drohung wäre."

Ein Jahr später jedoch wandelt das Gleichmütige, das ewige Leben im Spiegel des Schriftstellers, verkleidet auf Erden in Blitz und Donner:

"In Stifter habe ich mich hier weiter und sehr innig vertieft. Seine Naturschilderungen, namentlich die Schilderungen extremer und besonderer Naturereignisse, wie Schnee und Eiskatastrophen, Gewitter etc. sind geradezu phänomenal ... Ich hatte vor, im Zauberberg einen unmäßigen Schneefall zu beschreiben und sehe nun, das Stifter das 'In aus dem Bayrischen Wald' nicht nur unübertrefflich, sondern unerreichbar gut gemacht hat, nämlich die Schilderung eines Naturereignisses ......"

Wie groß muß jetzt die Fallhöhe zu diesen bescheidenen Zeilen eines großen Autors erscheinen, wollte ich nun, durch das Anliegen der Redaktion hierzu genötigt, etwas über die "Zeit" schreiben, obgleich doch vor nunmehr fast zweitausend Jahren der römische Senator und Stoiker Lucius Annaeus Seneca dieses Thema "nicht nur unübertrefflich, sondern unerreichbar gut" behandelte. Seiner Schrift "De Brevitate Vitae" (Von der Kürze des Lebens) habe ich hiermit nichts an Wesentlichem hinzuzufügen, und da ich trotzdem zur Feder greife, tue ich gut daran, Seneca mit keinem Wort zu zitieren, wobei ich mich auf die Zeilen Stifters aus dem "Bergkristall" berufen möchte: "Damit ihr das Kleine vortrefflich liefertet, hat die Natur klug euch das Große entrückt."

Das Große - hierunter fällt nicht nur der Atem der Historie, sondern auch die Weite des Raumes, die Raumzeit. Hier will ich es bei einem kleinen Beispiel, das auf eine Berechnung Albert Einsteins über den Zusammenhang von Zeit und Gravitation Bezug nimmt, bewenden lassen. Wenn wir nämlich eine Flugreise unternehmen und uns hierbei in einer Höhe von ca. 30.000 Fuß Kaffee, Bier oder auch einen klebrigen Orangensaft über die Hosen gießen, dann wächst zugleich die Uhrengeschwindigkeit relativ zum Niveau des Erdbodens, wo das Empfangskommitee bereits den Nacken spannt. Meßbar wird der Effekt infolge der Höhe und der Geschwindigkeit des Flugzeuges allerdings nur mit einer Atomuhr: 1/700 Milliardstel Sekunde in jeder Stunde dürfte kaum Anlaß sein, sich nach glücklicher Landung über den relativen Alterungsprozess der Erdverbundenen zu wundern, welche nun die verfärbte Hose betrachten.

Auf Einstein komme ich später in anderem Zusammenhang noch einmal zurück. Zuvor schlüpfe ich aber in die nach 2000 Jahren immer noch fest geschnürten Sandalen Senecas, um damit über Teppiche aus unserer Zeit zu wandeln. Dies kann durch die Annahme gerechtfertigt werden, daß zwar viele der Leser etwas von Seneca gehört, aber nur wenige seine Schriften auch gelesen haben werden. Die Spekulation sei erlaubt, daß im Gegensatz dazu Ernest Hemingway, der sich später umbringen sollte, "De Brevitate Vitae" gelesen hat, bevor er in seinem wahrscheinlich besten Roman ("For Whom the Bell tolls") in fast wörtlicher Umsetzung der Gedanken Senecas jemanden, der in extremer Situation einen ganz aussichtslosen Auftrag durchzuführen hat, sagen läßt:

"Früher einmal haben die Menschen ein ganzes Leben der Liebe gewidmet. Und jetzt, da du zwei Nächte hast, wunderst du dich, warum dir soviel Glück in den Schoß fällt ... Du wirst es fürs ganze Leben haben, sagte sein anderes ich ... Du hast es jetzt, und das ist dein ganzes Leben, das Jetzt. Es gibt für dich nichts anderes als das Jetzt. Weder ein Gestern noch ein Morgen. Wie alt mußt du werden, bevor du das begreifst? Es gibt nur das Jetzt, und wenn das Jetzt nur zwei Tage dauert, dann sind zwei Tage mein Leben, und alles, was in den zwei Tagen geschieht, wird danach aussehen müssen. So lebt man in zwei Tagen ein Leben. Und wenn du aufhörst, dich zu beklagen und das Unmögliche zu verlangen, dann wirst du ein gutes Leben haben. Ein gutes Leben mißt man nicht nach irgendeiner biblischen Spanne."

Verkürzen demnach Klagen, die sich aus der Gier nach Unerreichbarem - beispielsweise Unsterblichkeit - nähren, das Leben? Wandelt sich denn umgekehrt, wie Hermann Hesse meinte, Unglück zu Glück, wenn man es nur bejahe? Bevor ich mich im zweiten Teil um eine Per-Aspera-Ad-Astra-Wendung bemühe, möchte ich das jetzt in Rede stehende Thema, welches sich einer zerebralen Annäherung widersetzt, mit einem Gedicht beschließen: erinnert sei auch daran, daß, anders als in Hemingways fiktiver Verdichtung, unsere selbst- oder fremdbestimmten "Aufträge" nur gelegentlich töten und eine - wenn auch flüchtige - Auseinandersetzung mit einem "Danach" erfordern.

Selten, am Sonntag-Morgen
kehrt die Schönheit erinnerter Tage zurück
dann öffnen sich vier Augen
dann wird das Telefon leise und schließlich verschwiegen
dann ist die Morgensonne da
und der Sonntag öffnet sich warm in zwei, drei zärtliche Stunden
draußen vor der Tür.

An einem einsamen Ort
wo niemand mich kennt
niemand mich hört
niemand mich sieht
lausche ich der Windstille in den März-Bäumen.
Das Wollgras duckt sich träge als läge noch Schnee
Birkenstämme begrenzen wie schwarzweiße Tasten
und irgendwann
kommt eine Frau vorbei
sie ist ganz allein
leise wie ein Mosquito
in goldblonden Haaren von der Farbe des Grases
sie wird einen weißen Mantel tragen
der sich durch ihre schnellen Schritte weit öffnet
geräuschlos schwebt sie vorbei, die Lippen schmal und die blauen Augen
auf des Pfades Ende gerichtet als sei dies ihr Ziel;
mich wird sie keines Blickes würdigen
und ich spüre den Wind als sie vorüberfliegt
und in der Ferne verschwinden erst die schwarzen Stiefel
und dann das blonde Haar
sichtbar zuletzt der weiße Mantel
schwerelos eine Handbreit über dem Boden
im Rhythmus ihres Herzschlages schwingend
war sie da?
übrig bleiben die Äste von Bäumen
Birken, Erlen und Buchen
die sich, noch unbelaubt
wie flehende Finger im Himmel verkrallen
und darauf warten daß die Abendsonne
die letzte Seite des März-Sonntages gnädig schließt
und sie mit einem dünnen roten Siegel
vom Wachstum der letzten Stunden erlöst
in den Himmel hinein den sie doch nicht berühren
und der sie nicht einmal trägt -

Abenddämmerung,
zwischen den Erlen wächst eisiger Nebel
erst Äste, dann die Stämme schrumpfen
und werden zu bläulichem Frost
über einem schwarzen Moor
das langsam
höher kriecht
der Sonntag, die Frau und bald auch der März
weichen
die unendliche Schönheit erinnerter Tage
war im Licht
und in Menschen die mich nicht kennen.
Jetzt bleibt die Nacht
und die Woche erwacht.

Im Gegensatz dazu steckt in dem Lesen der Zeilen von Menschen, die seit langem tot sind, die jedoch ähnlich gelebt, gedacht und empfunden haben, etwas Tröstliches. Es zeigt, daß unser linearer, unter anderem auf Charles Darwin zurückzuführender Zeitbegriff eigentlich etwas Verkehrtes sein könnte, und daß das Leben der individuellen Kreatur zwar Anfang und Ende hat und das persönliche Erleben flüchtiger ist als Schnee in der Sonne, all dies jedoch im Vorübergehen dem Raum eine Struktur verleiht, von der etwas bleibt.

In einer schönen, gleichnishaften Geschichte von Ray Bradbury plaudern die Seelen längst verstorbener Dichter auf dem Exil des fernen Mars-Planeten, als lebten sie ewig und machten aus göttlicher Perspektive einen Scherz über die Verehrung ihrer Grabinschrift. Erst wenn das letzte Buch aus ihrer Feder, die letzte Spur auf Erden verbrannt wird, lösen sich die Seelen auf wie in einer Verpuffungsreaktion.

Die Perspektive, daß ein Schriftsteller - kommen wir zum Beispiel wieder auf Seneca zurück - nicht vergangen ist, solange noch Bücher mit dessen Namen auf dem Einband existieren, hat zwar eine lyrische Größe, grenzt jedoch den Horizont des Betrachteten zu sehr auf das Phänomen menschlicher Wahrnehmung und die Übertragung von Information ein. Seneca ist als Materie immer noch gegenwärtig. Hierbei ist insbesondere CO2 wichtig, welches durch mikrobielle Abbauprozessen seines Körpers reorganisiert wurde und zum größeren Teil noch immer in der Atmosphäre zirkulieren dürfte, wo es die Lungen eines jeden Menschen mit jedem einzelnen Atemzug betritt, wie es uns die Statistik lehrt.

Es dauert etwa 7000 Jahre, bis ein Atmosphäre - Volumen CO2 ganz aus der Luft entfernt wird. Einige Moleküle, die einmal Seneca waren (wie er an seinem letzten Tage war, denn auch der Körper erneuert sich zu Lebzeiten im Rhythmus weniger Wochen, Nervenzellen ausgenommen), werden sicherlich bereits den Weg ins Karbonatpuffer - System des Ozeans gefunden haben, wo sie sich wiederum in dem vom Sonnenlicht angetriebenen Zeitkreise bewegen. Beispielsweise werden die Wassermoleküle des Meeres im Durchschnitt alle vierzigtausend Jahre durch ein Riff gepumpt. Nach einem Besuch bei den Korallen und Rückkehr in das pelagische System gelangt Seneca teils in Kohlenwasserstoffen, teils als Karbonat auf den Meeresgrund, wo er unter anderem als Fecal Pellet die Zusammensetzung der Tiefsee-Sedimente verändert. Partikel mit Senecas Atomen werden, geeignete Struktur des Plattenrandes vorausgesetzt, irgendwann in den Mantel subduziert werden, vielleicht sogar die Sphäre des äußeren Erdkerns erreichen und in einem Hot Spot bei Hawaii wieder an die Oberfläche blubbern.

Dieser Atem der Erde übertrifft natürlich bei weitem die Spannweite der zweitausend Jahre, über die wir mit Seneca ein einseitiges Gespräch zu führen vermögen, jenem anderen Ort des Raumzeit-Kontinuums, welches durch die Zeit, die senkrecht auf drei Raumdimensionen steht, aufgezogen wird. Dennoch erscheinen den meisten Menschen zweitausend Jahre als langer Zeitraum, weil unser individuelles Leben weitaus rascher dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik anheimfällt und uns daher für die Wahrnehmung geologischer Tiefenzeit jedes Organ fehlt. Dabei sind selbst in der hastigen Rate kultureller Evolution zweitausend Jahre nicht mehr als die Variation eines irdischen Ausatmens.

Erste Kunstgegenstände wurden bereits von Homo erectus aus Straußeneiern gefertigt. Die altägyptische Kultur verharrte über dreitausend Jahre in vollster, wenn auch durch Fremdherrschaft immer wieder punktierter Blüte. Die römische Kultur entfaltete sich, wählt man die Unterwerfung Mittelitaliens zum Anfang und die Absetzung von Romulus Augustulus im Jahre 476 als Endpunkt, etwa 800 Jahre, was beinahe ebenso lang ist wie das von stärkeren Verwerfungen und Wechseln geprägte Mittelalter. Schließlich erfährt die Neuzeit vollends durch Rastlosigkeit ihr Gepräge, durch die Sprache der Preise und Zahlungen, durch den Zeitpfeil des Wachsens, der Ursache und anschließender Wirkung und nicht durch den Zeitkreis der Gezeiten-Jahreszeiten. Daher die Sehnsucht eines Thomas Mann nach unbeeilter Gleichmut, denn insgeheim wissen wir, daß die Hast, mit der wir zur Arbeit eilen und die Pünktlichkeit der Überweisungen und Abbuchungen auf unserem Bankkonto überprüfen, eine Fremdbestimmung ist, die uns dadurch nicht weniger nimmt, daß sie auf dem generellen Konsens unserer gegenwärtigen Kultur beruht, sich mit Preisen und Zahlungen zu verständigen.

Wie können wir glauben, daß es ausgerechnet unsere heutige, die "westliche" Kultur sei, die ewig währt, wo wir doch eine Milliarde mal mehr Information produzieren und in Zeitschriften und sonstigen Speichermedien festhalten, als wir in unseren Erbanlagen speichern können (1018 bits versus 109 bits, wie Cramer in "Chaos und Ordnung", 1989, ausgerechnet hat)? Ein derartiger Grad an Ordnung bringt weite Entfernung vom thermodynamischen Equilibrium mit sich, hohen Energieumsatz, hohe Wärme- bzw. Abfallproduktion und noch rapideren Wechsel und eine Labilität des Systems, das sich unter anderem World Wide Web nennt. Unsere Kultur wird eines Tages einer anderen Kultur das Feld räumen, hierin der von Cäsars Legion in Feuer gewandelten Bibliothek von Alexandria und dem darin gespeicherten Wissen der Antike nicht unähnlich.

Hier ruht einer, den die ganze Welt fürchtete, steht auf dem Grabe des einst mächtigen Cesare Borgias. Die westliche Kultur wird, außer von einer Handvoll Fanatiker, weder gefürchtet, noch fürchtet sie als eine Art Überorganismus ihr eigenes Ende, sondern beschwört im Gegenteil in unzähligen Werbespots und Schiffer - geschmückten Titelblättern das Ideal ewiger Jugend und Schönheit. Dabei werden wir mehr und mehr zu Reisenden, die aneinander vorüberziehen und irgendwann einsam und mit Überraschung feststellen, daß sie am Ende ihres Weges angekommen sind. Weit haben wir uns dabei von den Spuren Albrecht Dürers entfernt, der den körperlichen Zerfall seiner Mutter drei Monate vor ihrem Tode in einem Bild voller Akzeptanz und Würde festhielt.

Sich der eigenen Flüchtigkeit bewußt werden, und sich hierüber zu beklagen, sind zwei ganz verschiedene Dinge. Reine Klage lohnt des Zuhörens kaum, denn wären wir nicht flüchtig, so würden wir nicht leben. Leben ist ein Balancieren an der Grenze von Chaos und Ordnung, ein "aperiodischer Kristall", wie Schrödinger es nannte. Berechenbarkeit und Dauer ist nicht Leben. Leben heißt Sterben, und auch Evolution heißt Sterben, und alles, was wir heute forschen, wird irgendwann von den Nachkommen nicht mehr für speichernswert gehalten werden. Denn dieses Wissen muß von Generation zu Generation ja immer wieder neu vermittelt werden. Die lamarckistische Evolution unserer Kultur, die Vererbung ihrer erworbener Eigenschaften, ist dissipativ. Sie verbraucht Energie, die sich in Wärme wandelt, in Schweiß auf unserer Stirn, die wir uns anstrengen müssen, das Erbe der Vergangenheit zu wahren und hierbei zu erwägen haben, was wichtig ist und was nicht. Zahllose Bücher, deren Papier nach wenig mehr als hundert Jahren zerfällt, müssen bewahrt und noch kurzlebigere Datensätze in immer neue Programme übertragen werden, und wenn es in der Generationsfolge auch nur ein einziges Mal nicht durchgeführt wird, sterben die erworbenen Eigenschaften ab wie ein vom Stamm getrennter Ast. Es gibt keinen Code, der sie hält: in neuzeitlicher Wissenschaft variiert sich von Galileo Galilei bis Niklas Luhmanns die Erkenntnis, daß Wissen und erst recht wissenschaftlich gesichertes Wissen ein Produkt der Gesellschaftsgeschichte ist und nicht Produkt der Wahrheit. Newton glaubte, keine Hypothese aufgestellt zu haben und bedachte nicht, daß die Phänomene nicht so sind, sondern nur so heißen.

"Die Wissenschaften sind der Luxus des Verstandes, die uns den Vorgeschmack von dem geben, was wir im künftigen Leben sein werden", schrieb dagegen Immanuel Kant. Demnach gliche unser künftiges, der Wissenschaft geweihtes Leben einem Stück Haushalts-Papier, hat doch der Anglizismus "Paper" den schönen, aber langatmigeren Ausdruck einer "Publikation" oder gar einer "wissenschaftlichen Veröffentlichung" nahezu vollständig abgelöst. Paper ist etwas, das man von einer Rolle abreißt, womit man dann zur zweckgebundenen Erfüllung irgend etwas wischt. Paper ist der Prozeß, den eine bestimmte Gesellschaftsstruktur zu ihrer eigenen Erhaltung ausübt, und nicht Inhalt.

Aller Glaube ist Illusion, daß wir etwas Ewiges schafften, wenn wir beispielsweise eine neue Art beschreiben, die uns künftig in ihrem Papier-Dasein als Autorenname mit sich umherzutragen hätte wie eine Krabbe das Schneckengehäuse; ein schöner Schein, der uns ein Spiegelbild von der Oberfläche eines an sich hohlen Ballons abzieht. Letzterer will freilich nicht platzen, sonst wären vielleicht weniger als die drei Millionen Arten beschrieben, doch nur selten erinnert. Lügen haben erstaunlich lange Beine, wenn wir selbst, die sie schöpfen, ihnen Glauben schenken.

Der Schöpfung folgt Erschöpfung: Neuere Ergebnisse etwa aus der Feder Prigogines über den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik als Zeitmaß haben offenbar die zyklischen Zeitvorstellungen Newtons und Einsteins widerlegt. Mein ad-astera-Versuch wird wieder in die aspera-Folie geheftet. Am Ende seines Lebens schenkte Einstein sich Trost, indem er sich, einem toten Freunde gedenkend, einer Illusion der Illusion hingab: "Nun ist er (Michele Besso) mir auch mit dem Abschied von dieser sonderbaren Welt ein wenig vorausgegangen. Dies bedeutet nichts. Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion."

Dies bedeutet eben doch etwas, und so relativieren sich auf eine Art, die Einstein vielleicht nicht mit Wohlwollen betrachtet hätte, Erfolg und Mißerfolg, wenn Außenstehende die Werke anderer Menschen loben oder tadeln. Ist Darwin etwa größer als Wallace, weil er heute bekannter ist? Hier steht der eine, in gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen vierzig Jahre an einer Theorie schreibend, und dort der andere, der eigentliche Schöpfer und radikalere Vertreter der Selektionstheorie, der sich, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, nach oben schuftete und ein großen Teil seiner Energie der bloßen Wahrung des Lebensunterhaltes zu widmen hatte. Die Menschen hingegen, wie Klaus Mann eher beiläufig zu seinem Tschaikovski - Roman schrieb, lieben stets den Götterliebling und nicht den Stern zweiter Größe. Wichtiger vielleicht: ist nach dem Tode zwischen Darwin und Wallace ein Unterschied, jeweils aus ihrer eigenen Perspektive betrachtet? Eine Frage, die an den "letzten Dingen" rührt.

Finden wir also zu uns selbst, anstatt weiterhin nach Beispielen zu suchen. Berechneten wir unser eigenes Leben nach Stunden und nicht nach Jahren, da letzteres aufgrund der Schaltjahre als höchst ungenaues Zeitmaß angesehen werden darf, dann kämen wir nicht umhin, eine Stunde im Zeitpfeil der Lebensspanne, die halbmillionste nämlich, gesondert zu beachten. Diese ist zwischen dem 55.ten und 60.ten Geburtstage gelegen; die millionste Stunde zu erleben, bleibt uns verwehrt.

Einer, der seine halbmillionste Stunde bereits hinter sich hatte, klagte mir einmal, daß ihm kaum noch Zeit zur Ruhe oder für ein Familienleben bliebe. Ich rechnete ihm aus, daß er noch eine restliche Lebenserwartung von 20 Jahren hätte, den üblichen Gesamt - Durchschnittswert vorausgesetzt und um ein Quentchen Optimismus erweitert. Zwanzig Jahre sind 7300 Tage. Ein Tag, der einer ganz fremdbestimmten Sache wie beispielsweise dem Ausfüllen von Formularsätzen verlorengeht, trägt in seinem Falle 0,014% des restlichen Lebens mit sich fort.

Wir können das Zahlenspiel noch ein wenig weiterführen, weil es vielleicht ungewöhnlich ist, sich der eigenen Vergänglichkeit in solchermaßen primitiver Arithmetik zu nähern. Mein Kompakt-Seminar "Palökologie" - man verzeihe mir diese Eitelkeit, aber würde ich das Seminar eines Anderen nennen, so erzeugte dies vielleicht eine Kränkung - mein Seminar also kostet den Teilnehmern drei Tage ihres Lebens, nämlich Freitag, Samstag und Sonntag. Der durchschnittliche Teilnehmer ist 25 Jahre alt, hat also noch ca. 50 Jahre (m) bzw. 55 Jahre (w) zu leben. 50 Jahre sind 18250 Tage. Also kostet das Seminar jeden männlichen Teilnehmer 0,016% des Lebens, während sich die Frauen mit 0,015% begnügen. Um den Wirkungsgrad von 0,015 % einschätzen zu können, halte man sich vor Augen, daß bei 0,08 % Alkohol-Pegel die Fahrtüchtigkeit aufhört, schenkt man dem Gesetz Glauben. Leider gibt es kein Gesetz, das den Dozenten verpflichtet, die Lebens-Zeit der Kursteilnehmer nicht umsonst zu verbrauchen, und kein Bewußtsein, das die Teilnehmer veranlaßt, sich gegen Vergeudung ihrer Zeit zur Wehr zu setzen. Andererseits würden die Teilnehmer sogleich Protest erheben, würde man von ihnen verlangen, 0,015 % ihres Lebensverdienstes an Geld zu investieren. Dies wäre nämlich, nähme man optimistischerweise für jeden Teilnehmer einen Netto-Monatsverdienst von dreitausend Mark über den erwerbstätigen Zeitraum von 30 Jahren an (Weihnachtsgeld und sonstige Zusatzverdienste nicht eingerechnet), DM 162. Verlangte man dieses nicht als Lebenszeit, sondern als gewöhnliche Kursgebühr, käme niemand.

Also haben Seneca und seine Nachfolger doch unrecht, die davon überzeugt waren, daß die Lebenszeit des Menschen sich nicht nach Jahren berechne, sondern nach derjenigen Zeit, die ihnen selbst verbliebe? Manche Menschen sind nicht alt, sondern nur lange dagewesen. Fremdbestimmungen, wozu auch maßloser Ehrgeiz und Gier nach Status und Ansehen zählen, waren für Seneca mit der Mühsal für die Grabinschrift gleichzusetzen - eine trotzige Geste, vergeblich wie diejenige eines Mansfeld, der, als er vor 350 Jahren in den Bergen vor Sarajewo sein eigenes Sterben fühlte, zwei Landsknechte bat, ihn auf die Füße zu stellen.

Nein, wir dürfen unsere kostbare Zeit nicht mit dem Lesen von Schriften der Antike verbringen, die als entbehrlich bezeichnet werden können. Seneca sei also mit seinen eigenen Worten in das Grab verwiesen. Denn, wie Benjamin Franklin in den einflußreichsten drei Worten aus unserer Zeit feststellte:

"Time is money".

Joachim Scholz

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