Der blinde Taucher im Riff

Anmerkung der RED: Offensichtlich ist der FLÖZ auf dem richtigen Weg. Wir haben bereits die erste Schlacht gegen das Magazin GEO gewonnen, für das dieser Artikel ursprünglich gedacht war.

Daß Riffe unendlich sind, dieser Gedanke mag einem als Erlebnis kommen; Sie schnorcheln, und eben war da noch das Riffdach, eine Plattform, die sich vom Ufer bis auf einige hundert Meter ins Meer erstreckt und dabei gemütlich auf zehn Meter Tiefe abfällt. Diese Plattform ist voller Leben, die Tiefe ist noch nicht groß genug, als daß das Licht alle Farbe und damit auch alles Leben verlöre, und Sie genießen es, den Fischen und ihren Bewegungen zwischen den Korallenstöcken zuzuschauen. Aber wenn Sie sich noch ein bißchen weiter von der Strömung hinaustragen lassen, driften Sie typischerweise über den Riffabhang: oft schlagartig und ohne Vorwarnung fällt die Topographie auf einige hundert Meter ab, und in diesen Vertikalschacht blicken Sie hinab, der so schwarz und leer ist wie das Weltall, wo alles Licht erstirbt und, bevor es endgültig kalt wird, einige Schatten in der Tiefe andeutet, größere Fische als die von der Flachwasser-Plattform. In ihrem Geiste sehen sie von da unten ein Ding mit Kiefern nach oben hechten, schnell größer werdend, und Sie schwimmen zurück, weg von der Kante zurück in die Endlichkeit des Lichtes, und Sie bilden sich dann ein, jenseits des schwarzblauen Abhanges läge der unendliche Raum.

Daß das Riff aber auch ohne viel Psychologie eine unendliche Ausdehnung besitzt, obgleich es sich doch als Kalkgestein-Körper abgrenzen und genau vermessen läßt, erscheint viel schwerer zu begreifen. Und während Sie mit dem Gefühl, welches Sie beim Schnorcheln an der Riffkante gehabt haben könnten, instinktiv vielleicht richtig liegen, weigert sich der Verstand, mitzuspielen.

Da sind zunächst einmal die Korallen, denen neben den Fischen Ihre Hauptaufmerksamkeit gegolten hat. Korallen sind auffällig, weil sie in flachem Wasser recht bunt sind, und sie werden meistens auch recht groß und können nicht vor Ihnen weglaufen, um sich der Beobachtung und Ihrem sorglosen Anfassen zu entziehen. Und obwohl Korallen gewiß wichtige Architekten und Riffbaumeister sind, wäre nichts verkehrter, als jetzt ein Riff mit "Korallenriff" gleichzusetzen. Es wäre so, als wären im Adreßbuch einer Stadt nur Architekten und Ingenieure angegeben, weil diese nun mal die U-Bahn und die Häuser geplant hätten.

Daher müssen wir uns in einem Riff auch die anderen Bewohner ansehen, die großen und vor allem die kleinen, unauffälligen, die viel zahlreicher sind und auch die höhere Biomasse in das System einbringen. Dazu gleich etwas mehr. Zunächst aber noch ergänzende Anmerkungen zu den Architekten, und dem Begriff "Korallenriff" selbst. Hier hat man ja nicht nur die Unterwasserlandschaft vor Augen, sondern zugleich auch den gemütlich warmen Palmenstrand, mit weißem Sand bitteschön, und wenn Sie sehr viel Werbung aus dem Fernsehen intus haben, dann sehen Sie sich da stehen am Strand vor dem Korallenriff mit einem Glas Rum in der Hand - angeblich ist es ja gerade das Zeugs, das man sich in den Tropen an einem stickigen Strand statt eines kühlen Glases Wasser hineinkippen möchte. Verlassen Sie jedoch die Tropen, dann haben sie vielleicht nicht mehr den Rum im Gepäck, aber immer noch Riffe vor der Küste liegen, zum Beispiel in Nordnorwegen, am Polarkreis. Hier bei Troms sind nicht Korallen, sondern Pflanzen - Kalkalgen - die auffälligsten Riffbaumeister. In Neuseeland sind es in bestimmten Küstenabschnitten Bryozoen (Moostierchen) und auf einigen Stellen in den Bahamas Einzeller, sogenannte Cyanobakterien, die gewaltige Mengen von Kalklamellen abscheiden, letztere als "Stromatolithe" bekannt.

Und da wir nichts weiter sind als eine verschwindend kurze Momentaufnahme im großen Raumzeitgeschehen, flüchtig wie ein Tropfen Alkohol in der Sonne, dürfen wir es nicht vergessen, auch einen langen Blick zurück zu werfen - so etwa mit einer Reichweite von 3,6 Milliarden Jahren, als das Leben in den geologischen Urkunden auftaucht. Damals waren es lediglich prokaryotische Einzeller, und seit 2 Milliarden Jahren begleiten sie auch die eukaryotischen Zellen. Diese Kleinstlebewesen haben sich in der Zeit kaum verändert, sie allein repräsentieren die ersten fünf 6tel dieser Lebensgeschichte. Das Leben auf der Erde ist also, wenn man die ganze Story bis zu ihren Anfängen zurückverfolgt, eher durch Konstanz denn durch Evolution gekennzeichnet. Wenn solche Einzeller Matten, also komplex geschichtete mikrobielle Ökosysteme auf dem Meeresboden bilden, und wenn diese Matten zudem verkalken und damit Seiten im Buch der Fossilien zu schreiben vermögen, spricht man von den eingangs erwähnten Stromatolithen. Und wenn diese Stromatolithe blumenkohlartig nach oben wachsen, haben wir mikrobielle Riffe als Archetyp aller Riffbildung vorliegen.

Seit sechshundert Millionen Jahren haben wir es dann mit einer Reihe von Metazoen-Stämmen zu tun, die sich mit wechselndem Erfolg darum balgen, als Hauptriffbildner genannt werden zu dürfen: Zunächst sogenannte Archäocyathiden, das sind schwammähnliche Organismen. Dann folgen verschiedene Schwämme, Bryozoen, Stachelhäuter, bestimmte Muscheln (Rudisten), immer wieder mal Korallen, hierbei zunächst Gruppen, die mit den heute riffbildenden Hexakorallen wenig gemein haben, und die ganze Abfolge in der Zeit häufig durchlöchert von Perioden katastrophalen Massensterbens und weitgehend riffloser Perioden der Erdgeschichte. Überhaupt waren die Hexakorallen über lange Zeit hinweg nur unter "ferner liefen" anzuführen, und die heutigen tropischen Riffe, die wir als Touristen vom Strand aus beschnorcheln und manchmal auch dabei kaputt machen, sind ein typisches Produkt der letzten Eiszeiten und daher als geologisch junge, wenige Millionen Jahre alte Newcomer-Konstruktionen anzusehen.

Bei der Frage, welches denn nun der eigentliche Riffbildner sei, läßt man sich gerne von der Optik leiten, aber das Auge ist, wie wir noch sehen werden, nicht immer ein zuverlässiges Organ. Also nochmals die grundsätzliche Frage: wenn nicht "Korallen"-Riff, was kann man dann unter einem "Riff" verstehen?

Ursprünglich leitet sich der Riff-Begriff von den Seefahrern auf ihren hölzernen Kähnen ab: Riff, das war alles, was bis an die Wasseroberfläche ragte, und das hart genug war, um einem beim Drauffahren ein Loch in den Rumpf zu hämmern. Später hat man die nautische Definition ins Biologische übertragen: Riff ist nun alles, was biologisch gebaut ist, über das Niveau der Umgebung, also der Sedimentation, hinausragt und die Aufwärtstendenz bis nahe der Wasseroberfläche durchhält (bei Steinkorallen ist dies der Drang zum Licht, weil sie sich um ihre symbiontischen Grünalgen im Gewebe kümmern müssen). Überdies muß die biogene Konstruktion hart genug sein, um den Wellen zu widerstehen - meistens wird dies durch massive Verkalkung bewirkt (wären nicht-verhärtende Konstruktionen Riffe, dann müßte jedes einzelne Seegras als solches bezeichnet werden, was nicht sehr praktisch ist). Heute produzieren Riffe bis zu vier Kilogramm Kalk pro Quadratmeter und Jahr, was sie zu einem der produktivsten Ökosysteme auf der Erde macht. Wenn die Geschichte sich dann noch in den Tropen abspielt, wird die Sache rund, und noch heute sind auf Riffkongressen die mindestens ebenso wichtigen außertropischen Riffe etwas unterrepräsentiert, weil sie von weniger Leuten untersucht werden.

Trotzdem erzwingen Kaltwasser-Riffe eine breitere Definition, und es hilft auch nichts, wenn man Riffe, die im tieferen Wasser - wie zum Beispiel auf dem Schelfsockel des Roten Meeres oder Norwegens unterhalb von einhundert Metern - vorkommen, wo es kein Licht mehr gibt oder nur sehr wenig, nicht als Riffe, sondern als "bioherme" oder "biogene Gerüstkonstruktionen" benennt. Ist der Meeresspiegel so wichtig, daß man für einander ähnliche Strukturen neue Begriffe verwenden muß? Noch komplizierter wird es, wenn man die Frage der Größenordnung mit berücksichtigt, wie sie in der Definition bisher noch gar nicht enthalten ist. Daß es Riffe in allen möglichen Größen gibt, hierauf wurde bereits in den siebziger Jahren hingewiesen und eine begriffliche Unterteilung versucht. Die Frage der Größenordnung wird jetzt zunehmend wieder aktuell, nachdem man sich die Frage gestellt hat, was denn eigentlich der gemeinsame Nenner zwischen diesen, auch heute aus ganz unterschiedlichen Organismen gebildeten Gerüstwerken ist, und welche Kontrollfaktoren ihr aufwärts strebendes Wachstum steuern.

Wie groß kann also ein Riff werden? Menschen erschauern vor der Größe, darum wird bei Evolutionstrends in der Zeit gerne auf die Größenzunahme acht gegeben und mit Gesetzestexten unterlegt (Beispiel "Copesches Gesetz" bei der Pferdentwicklung). Dies, obwohl die Verzwergung ganzer Entwicklungslinien ebenso häufig ist, zum Beispiel auf Inseln und in Höhlen. Wir erschauern vor Dinosauriern und vor Walen, weil sie so groß sind, und wir betrachten mit Ehrfurcht die Pyramiden, die große chinesische Mauer und die biologische chinesische Mauer, das Barriere-Riff, beide weit über 1000 Kilometer lang. Aber so, wie sich die chinesische Mauer aus Steinen, Türmen und Teilabschnitten zusammensetzt, so besteht das Barriere-Riff aus vielen Einzel-Riffen, und diese Einzel-Riffe wiederum setzen sich aus Einzel-"Steinen" zusammen, zum Beispiel große Korallenblöcke, die an die Wasseroberfläche wachsen; sobald sie diese erreicht haben, müssen sie in die Weite gehen, und der zentrale Teil bietet ebenso wie die abgestorbenen Randbereiche Platz für eine Vielzahl von anderen Organismen, die darin zoniert auftreten. Hierbei bestehen zwischen Riffbauer und Riffbewohnern ähnliche räumliche Beziehungen auf kleiner Fläche, wie innerhalb des Riffes als Ganzheit mit den verschiedenen Substratzonen, der Lagune und dem Riffabhang. Aber was ist ein Riff als "Ganzheit", und wo genau sind seine Teile? Wir nähern uns allmählich einem Problem der Selbstähnlichkeit auf verschiedenen Stufen der Größenordnung, und zwar auf zweierlei Pfad: dem topographischen Bereich, den äußeren Umrissen und Zonierungen, und dem ökologischen Pfad, den inneren Prozessen im Verhältnis unterschiedlich großer Riffbauer und seiner Bewohner zueinander.

Zunächst die äußeren Erscheinungen: es ist eine wenig bekannte Tatsache, das mehr als 90% aller Organismendiversität in Riffen da vorkommt, wo man sie nicht sieht: in tiefen Spalten, auf der Unterseite von Blöcken, tief im dunklen Inneren großer Korallendickichte, und in Höhlen - all das, was der Riff-Forscher unter dem Sammelbegriff "kryptische Habitate" zusammenfaßt. Der Schnorchler mag sich noch sehr über das tummelnde Leben freuen, die eigentliche Vielfalt wird er so niemals sehen können. Wenn wir uns die Oberfläche eines lebenden Riff-Karbonatgesteines einmal mit der Lupe ansehen, wird auch klar, warum.

Stellen wir uns eine Ebene vor, in die wir eine Hohlform hineinmeißeln, und in diese Hohlform noch eine Hohlform, kleiner diesmal, und hier nochmals eine kleinere, und so weiter. Das ist die Oberfläche eines Riffes: eine Höhle-in-der-Höhle-in-der-Höhle, ein Aufbau aus verschachtelten Teilkopien seiner selbst. Mitunter hat die Natur hier noch ein wenig mit den Eiszeiten nachgeholfen, Zeiten, in denen Wasser in den kontinentalen und polaren Eisschilden gebunden war und der Meeresspiegel wie an einem Jojo 150 Meter rauf und runter lief; und jedesmal, wenn er auf einem tiefen Stand buchstäblich "einfror", fräste sich die Verwitterung des Festlandes in die Kalksteinkörper der trockengefallenen Riffoberflächen und arbeitete sich durch die Abhänge vor. Viele philippinische Riffe sind heute perforiert wie ein Schweizer Käse, und wenn Taucher in diese Riffhöhlen hineinschwimmen, kann man an der Oberfläche zusehen, wie Luftblasen überall aus den Kalksanden des Riffdaches hervorblubbern und ein aufsteigendes Schneegestöber aus Kalksand und glitzernden Vorhängen erzeugen.

Den Aufbau aus eigenen Teilkopien bezeichnet man als fraktal. Hier, in der fraktalen Geometrie, unterscheiden sich Riffe grundsätzlich von Städten, mit denen sie gerne verglichen werden, und auch von der bereits erwähnten chinesischen Mauer. Diese von Menschenhand gemachten Bauwerke haben eine euklidische Geometrie, das heißt sie sind dreidimensional, weil unser Gehirn mit gebrochenen, fraktalen Dimensionen erst zurechtkommt, seit es Computer gibt. Dreidimensionale Körper haben die Eigenheit, daß ihre Oberfläche kleiner wird, je größer man sie macht. Genauer: Die Oberfläche wächst in der zweiten, das Volumen hingegen in der dritten Potenz. Bei Festungsbauwerken, zu denen ja die chinesische Mauer zu rechnen ist, hat Größe den Vorteil, daß sie durch ihre kleine Oberfläche und große Masse wenig Angriffspunkte bieten und dadurch einigermaßen widerstandsfähig werden.

Fraktale Körper geben sehr schlechte Festungen, aber gute Riffe ab. Eine fraktale Geometrie hat zur Folge, daß die Oberfläche immer größer wird, wenn die Struktur wächst, während gleichzeitig die Dichte des Körpers abnimmt. Auch wenn das so rein und lehrbuchhaft nie zu beobachten ist, so kann man doch sagen, daß Riffe als Höhle-in-Höhle-in-Höhle eine gewaltige Oberfläche im Verhältnis zum investierten Kalkgestein aufweisen, eine Oberfläche, wie sie durch ein kompliziertes Gleichgewicht zwischen riffbauenden und riffabtragenden Prozessen immer wieder neu gestaltet wird.

Allein die auf diese Weise entstehende komplizierte Mikrotopographie in allen Größen ermöglicht Zonierungen: manche festsitzenden Organismen mögen Licht und bewegtes Wasser, andere sind Schattengewächse; manche sind zäh und widerstehen der Wellenkraft und den mitgeführten Partikeln, die wie Schmirgelpapier über die Oberfläche raspeln. Bestimmte Riffbewohner, wie Kalkalgen und spezialisierte Bryozoenarten, mögen solche exponierten Standorte, wo es Algenmatten und anderen Raumkonkurrenten schlecht ergeht. Und wieder andere Riffbewohner, die im Verborgenen wachsen, erscheinen so gebrechlich, daß man meint, allein der Blitz der Unterwasserkamera genügte, sie von ihrem Sockel zu blasen.

Nun zu dem zweiten Aspekt, den internen Zonierungsmustern: Wenn ein Riff eine Höhle-in-der-Höhle ist, wie verhält es sich mit den Organismen, die auch verschieden groß sind und die zwangsläufig die Welt mit ganz unterschiedlichen Augen sehen?

Wir, die Menschen, sind ein verhältnismäßig großes Säugetier. Manchmal passiert es uns, daß wir wie der biblische Jonas im Bauch eines Tigerhais spazierengehen müssen, aber für die meisten Rifforganismen sind wir nichtsdestotrotz Giganten. Nur: wir wissen nichts von unserer Größe, beurteilen Kleinstorganismen nach unserer eigenen Welt. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Elefant: wenn Sie dann in einen Wald gehen, ist Ihnen alles egal, es gibt für Sie Bäume und Lichtungen. Wenn Sie ein Camper und nicht ganz so groß wie ein Elefant sind, dann wird Ihnen zusätzlich auch der günstige Zeltplatz auffallen, da, wo der Boden trocken ist und diese Fichten da einen besonders guten Sichtschutz bieten, denn Campen im Wald ist bei uns fast überall verboten. Und wenn Sie das Pech haben, als kurzlebige Maus geboren zu werden, hinter der so ziemlich alles im Wald hinterher ist, dann wird jede einzelne Fichte zum Fahrstuhl in den Himmel (oder ins Paradies, wenn ein Waldkauz darin lauert), und jeder Stein wird zum Matterhorn voller Ecken und Kanten, günstiger und weniger günstiger Verstecke, und Fußabdrücke. So geht es den meisten Riffbewohnern. Für uns zählt fast nur der Wald, oder, um im Riff zu bleiben, die Meeresoberfläche und wie tief man von da ab runtertauchen kann. Für so einen kleinen Riffbewohner wie beispielsweise eine Bryozoe ist die Wasseroberfläche zunächst mal irgendwo am Rande des Universums. Sie hat andere Sorgen. Diese Sorgen, Vorlieben und Nöte, die kleine Bryozoen haben, studieren wir seit einigen Jahren in philippinischen Riffen, und wichtige Anregungen kommen hierbei auch von den Lebensgewohnheiten neuseeländischer Arten, die mit den philippinischen aufs Engste verwandt sind.

Bei Bryozoen handelt es sich um einen Stamm, der aus der Fähigkeit, sich selbst zu klonen, ein Erfolgsgeheimnis gemacht hat. (Fast) alle Bryozoen bilden Kolonien, die aus mehr oder weniger selbständigen Individuen zusammengesetzt sind, jedes ausgerüstet mit einem Verdauungstrakt, einer selbstgemachten Wand drumherum, die meistens aus Kalk besteht, und einem strudelnden Tentakelkranz, der beides füttert. Diese Einzelindividuen sind typischerweise kleiner als ein halber Millimeter, und eine Kolonie, die größer wird als ein Fingernagel, darf bereits stolz darauf sein. Sie sind klein, sie sind unauffällig, aber es gibt einige tausend Arten davon, und jede hat einiges über ihre Umwelt zu erzählen - auch über Riffe. Und das, was ihnen während des Wachstums zustößt, wird wie in den aufeinanderfolgenden Rillen einer Schallplatte aufgezeichnet: nämlich im Kalk der einzelnen Wuchsstadien.

Nehmen wir eine Bryozoenart, die es liebt, in Strandnähe auf einzeln und lose im Sediment herumliegenden Muschelschalen zu siedeln. Die Larve, die sich nach Verlassen einer Brutkammer zunächst durch das freie Wasser abmühen muß, ist wie die Einzelindividuen der Mutterkolonie kleiner als ein Millimeter. Und da Wasser eine zähe, klebrige Masse ist, wenn man so klein ist - hierfür gibt es physikalische Gesetze, mit denen sich die Mühe der Fortbewegung ausrechnen läßt - währt die Reise über die Oberfläche einer fünf Zentimeter großen Muschelklappe eine halbe Ewigkeit. Man bekommt eine Menge Zeit, darüber nachzudenken, wo man denn Platz nehmen soll auf so einem Objekt, das in Relation zur eigenen Abmessung wie der Felsen von Helgoland ist. Diese Art - Chaperiopsis cervicornis - siedelt gerne genau unter den Zähnchen, die sich bei vielen Muschelarten auf den Innenseiten der Klappen an deren oberem Rand finden. Hier, in dieser Mikrohöhle, ist man einigermaßen sicher, falls die Wellen die Klappen erfassen und über den Boden vor sich her treiben.

Einige von diesen Kolonien konnten sich ihres idyllischen Plätzchens nicht lange erfreuen - sie wurden von uns gesammelt, dann in Chemikalien geworfen und so fixiert, daß die nicht verkalkten Weichteile und selbst fragile Objekte wie Bakterienzellen erhalten blieben. Wir wollten wissen, wie die Larven dieser Art eigentlich den engumgrenzten Flecken finden, wo sie so regelmäßig siedeln. Liegt es etwa an Bakterien, die wie immer als erste genau unter den Zähnchen der Muschelklappe wachsen? Es ist nämlich durch Laborexperimente bekannt, daß die Larven von Korallen, Seepocken, Schwämmen, Kalkröhrenwürmern und eben auch von Bryozoen einen bestimmten "Cocktail" aus Mikroorganismen auf dem Substrat benötigen, um sich überhaupt erst festheften und ihre Metamorphose durchführen zu können. Die Larven bestimmter Bryozoen-Arten führen sogar ihre eigenen Bakterien mit sich, die sie über dem Substrat ausspucken und siedeln lassen. Auf den hausgemachten mikrobiellen Biogarten setzen sie sich drauf und wachsen dann weiter.

Die Resultate für die Bryozoenart, die auf Schalen siedelt, sind noch uneindeutig, zumindest was die Verteilung der Mikroorganismen unter den Muschelzähnchen anbelangt. Dafür ergab sich ein ganz anderes, spannendes Resultat: Die Bryozoen werden von einer Vielzahl von Mikroorganismen überwachsen, die durch das sogenannte "Critical Point"-Verfahren im Elektronenmikroskop sichtbar gemacht werden können. Es handelt sich um diverse Bakterientypen, um Kieselalgen, aber auch um Nesseltiere und kleine, bewegliche Organismen wie Seemilben und Nematoden (Fadenwürmer). Wichtiger noch: diese Organismen wachsen nicht einfach wildwuchernd über die Bryozoe hinweg, sie sind vielmehr sehr regelmäßig zoniert und geschichtet. Innerhalb des Mikrofilzes können wir mindestens sechs Vertikalschichten mit unterschiedlichen Vergesellschaftungen unterscheiden, die auf der Bryozoe siedeln, und die Muster ihrer horizontalen Erstreckung sind eher noch komplexer. Und außerhalb des Bryozoen-Wachstumsrandes ist so gut wie gar nichts mehr da, mit Ausnahme einiger versprengter Bakterien und Kieselalgen, die sich in die Mikro-Karstvertiefungen der Muschelschale ducken.

Das Verteilungsmuster der Mikroorganismen wird wesentlich bestimmt durch die Wasserbewegung im Kleinstmilieu; hierbei spielt die strudelnde Aktivität der Bryozoen eine wichtige Rolle. Die Bryozoe muß zwar das ganze Wasser und die Nährstoffe herbeipumpen, welche die Mikroorganismen für ihren Stoffwechsel brauchen - solchen Einzellern fehlt ja jede Möglichkeit, größere Strömungsbewegungen selbst zu erzeugen. Aber die Bryozoe profitiert auch von dem Mikrobenfilm. Der Siedlungsplatz unter dem Muschelzahn ist gewissermaßen das Blankenese oder Beverly Hills unter den Kleinlebewesen: allererste Lage. Es gibt viele Arten, die hier siedeln wollen, darunter auch andere Bryozoenarten, die schneller und besser wachsen als Chaperiopsis - und gern als marine Unkräuter alles überwuchern und ersticken, wie es ihnen paßt. Diese Super- Bryozoen haben aber eine Schwäche: sie mögen die schleimigen, halbmillimeterdicken Mikrobenmatten nicht, wie sie sich auf Chaperiopsis besonders wohl fühlen. Sie können diese Art daher nicht oder nur sehr zögerlich überwachsen. Vielleicht tragen auch die Kapseln von Nesseltieren, die wie Armbrüste von Chaperiopsis aus abgefeuert werden, dazu bei, den Raumkonkurrenten dazu zu überreden, lieber in eine andere Richtung weiterzuwachsen.

Inzwischen haben wir weitere Bryozoenarten untersucht; offenbar hat jede ihre eigene Mikroorganismen-Vergesellschaftung. Es gibt auch Arten, auf denen aus unbekannten Gründen nichts wächst, und andere Arten, die exponierte Plätze auswählen, wo Mikroorganismen von ihrer Oberfläche gehobelt werden. Andere Bryozoenarten wiederum scheinen besser als "Mikrobenmatte" oder "mikrobielles Ökosystem" denn als einzelne Art definiert, mit der Bryozoe als unterlagernde Transporteinheit.

Was hat dies mit Riffen zu tun? Nun, wir haben genau die gleichen Muster der Zonierung und der Diversität im Millimetermaßstab, wie wir sie als eiliger Schnorchler im Metermaßstab sehen. Die Frage der Größe von Riffen ist also nicht zu beantworten. Ein Riff ist eine Höhle in der Höhle, aber es ist auch ein Riff-im-Riff-im-Riff und demzufolge unendlich. Die kleinen Bryozoen verkalken, und sie wachsen über das Sediment - nur eben sind diese Mikroriffe (nicht zu verwechseln mit mikrobiellen Riffen!) so klein, daß man sie mit bloßem Auge kaum wahrnimmt.

Die Suche nach Millimetermaßstäben im Riff lehrt uns darüber hinaus zweierlei. Erstens hängt das, was man findet, davon ab, wie man die Proben präpariert. Mit der Präparation entscheidet man, was man wahrnehmen kann von der Riffwelt und was nicht; die Interpretation der ökologischen Vorgänge ist daher eine ziemlich subjektive Angelegenheit, und die hier in diesem Artikel vorgestellte macht da keine Ausnahme. Organismen, die wie Bryozoen ein Kalkskelett abscheiden, werden gerne mit Wasserstoff-Peroxid oder Klorix bearbeitet, damit man die Weichteile, die im getrockneten Zustand meistens eine "schmutzige" Masse bilden, beseitigt. Erst dann sieht man das reine Kalkskelett mit seinen phantastischen Mikroskulpturen. Diese Skulpturen, diese Höcker, Stacheln, Siebplatten und Löcher tragen alle ein Erkennungszeichen, mit dem man die Arten bestimmen kann. Und die Bestimmung, die vermeintlich langweilige Taxonomie, ist das A und das O aller ökologischen Arbeit, denn ohne diese auch im wörtlichen Sinne "saubere" Artidentifizierung ist jede weitere ökologische Arbeit sinnlos, und in den Philippinen wie auch auf Neuseeland legen jeweils über tausend Bryozoenarten Wert darauf, sich voneinander zu unterscheiden. Daher wurden in der Vergangenheit schmutzige, ungesäuberte Proben schlichtweg nicht bearbeitet. Doch der "Schmutz" ist kein Dreck; er ist wesentlicher Bestandteil der Ökologie dieser Arten. Ganze Ökosysteme sind in dieser Trockenmasse verbacken. Leider bedeutet das, daß man eine Probe nicht gleichzeitig für Taxonomie und für Ökologie einsetzen kann. Hier erwartet das Elektronenmikroskop eine beträchtliche Mehrarbeit.

Der zweite Aspekt ist der vielleicht wichtigere, wenn es um (größere) Riffstrukturen geht: Korallenstöcke mögen zwar eine imponierende Größe von einigen Metern erreichen, und wenn die Konditionen stimmen, können sie übereinanderwachsen und Karbonatkörper von tausend Meter Mächtigkeit und mehr bilden. Aber auch Korallen fangen als Larve an, im Millimetermaßstab. Sie müssen irgendwo siedeln, da unten auf dem Substrat, und das Substrat ist keine tote unbiologische Fläche. Die Oberfläche der Substrate und Sedimente lebt, Biofilme und mikrobielle Matten sind allgegenwärtig, keine Fläche, die frei von ihnen wäre. Und die etwas größeren Organismen wie zum Beispiel Bryozoen, die vielleicht noch vor der Koralle da sind, haben nur die Wahl, die Mikrosysteme entweder zu überwuchern und dafür spezielle Anpassungen zu entwickeln, oder sich selbst bereitwillig von ihnen überwuchern zu lassen. Unglück wird zu Glück, indem man es bejaht, sagte Hesse. Genau das sagt sich auch die als Beispiel gewählte Bryozoe namens Chaperiopsis, und sie ist recht erfolgreich damit, den wuchernden Kleinfilz aktiv zu beiderseitigem Nutzen an ihrer Mikrowelt teilhaben zu lassen.

Die winzigen Larven der Riffbauer und Riffbewohner, die aus dem Weltraum des Ozeans herandriften, finden also bei der Landung eine farbige Welt auf dem Riffsubstrat vor, eine Welt, die viel mehr Informationen - angenehme wie unangenehme - anzubieten hat, als eine tote, unbelebte Fläche. Der Wettbewerb zwischen Verkalkung und nichtverkalkenden Mikrobenmatten erzeugt Information, und die Larve weiß jetzt vielleicht ein bißchen genauer, wo sie siedeln soll, und welchen Erfolg sie damit haben könnte. Andere Arten haben andere Vorlieben, und alle fangen sie klein an. Wie ein entfaltender Blumenkelch entscheidet sich die Diversität der Riffe in seiner kleinsten Dimension. Die "Mikroriffe", und die Flächen dazwischen, die allein von Bakterien und Kieselalgen kolonisiert werden, entscheiden, wer dazwischen groß werden darf und wer nicht, und später siedeln andere, größere Arten auf den Kalkplättchen der Mikroriffe. Solche Kleinststrukturen kontrollieren die großen Riffe und werden wiederum von ihnen, auf deren Fläche sie wachsen, kontrolliert. Alles kontrolliert und bekämpft sich gegenseitig im Wettbewerb um kostbaren Siedlungsraum, und doch kooperieren sie alle in der Schaffung des nach den tropischen Regenwäldern höchst diversen Lebensraumes auf der Erde: der Welt der großen Riffe, die aus dem Kleinen wachsen. Denken Sie daran, beim nächsten Mal, wenn Sie in den sogenannten Korallenriffen schnorcheln und mit Ihren Fingern, die breit sind wie der Fußtritt eines Elefanten, Blöcke umdrehen oder Korallenstöcke anfassen.

Joachim Scholz

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