Der flüchtige Zeitraum

Ein beliebiger Tag in einem beliebigen Jahr. Einziger Fixpunkt: die anstehende Vordiplomsprüfung eines nicht ganz beliebigen Faches. Eher eines ziemlich unbeliebigen Faches eines der von mir ziemlich unbeliebten Fächer.

Ich trete durch die Tür mit dem beruhigenden Gedanken: Fünf gute Stunden hast Du Zeit, um zu lernen. Dann mal los. Doch erst mal werde ich mir einen guten, warmen Tee kochen, das heizt an. Und wo eins zum anderen kommt, kann ich auch schnell mal eine Scheibe Brot einwerfen.

Na, nun habe ich noch vier Stunden, um mich in die Formeln zu vertiefen. Für heute ist das mehr als genug. Erst mal die Bücher herbeiholen und ordentlich auf dem Tisch ausbreiten. Ich komme an der Zeitung vorbei: "Deutschland vor der Wahl: Kanzlerwechsel und große Koalition - oder keines von beiden ? Höchste Zeit für eine Wende". Nachdem ich die Blätter in einigen Abständen neugierig gewendet habe, komme ich wieder zum Thema - höchste Zeit. Noch drei Stunden, das wird noch dicke reichen, also ran an die Formeln - aber erst will ich mir noch die Kerze anzünden und auf dem Weg zum Papierkorb, wohin ich die leere Streichholzschachtel trage, komme ich an meinen hungernden Fischen und den verdurstenden Blumen vorbei... Wie grausam egoistisch ist doch der Mensch. Beim Stichwort Egoismus fällt mir meine fast vergessene, ewig auf einen Anruf wartende Freundin ein.

Als ich zu meiner brennenden Kerze und den eifrig sortierten Büchern zurückkehre, fühle ich mich befreiter und habe noch eine Stunde und fünfundvierzig Minuten, um mich mit Energie und Enthalpie zu befassen. Ich fange an, Männchen neben das Wort Enthalpie zu malen., reiß mich dann aber zusammen und radiere die armen Wichte wieder aus. Zum Glück betritt in diesem Moment meine Schwester die Szene, so daß ich mich eingehend nach ihrem Befinden erkundigen kann. Als sie mein Gesichtsfeld wieder verläßt, bleiben mir noch fünfzehn Minuten; und da wird mir wohl jeder zustimmen, daß dieser flüchtige Zeitraum kaum ausreicht, sich fundiertes Fachwissen anzueignen.

Nachdem ich die letzten fünf Stunden an meinem geistigen Auge habe vorbeiziehen lassen und mich doch tatsächlich noch schriftlich betätigt habe, bleiben mir noch 60 Sekunden, meine Bücher wegzuräumen und die Kerze auszublasen.